Genetischer Mosaizismus häufiger als gedacht

Genetischer Mosaizismus häufiger als gedacht. Foto: Creative Team EMBL, adobestock

In einer Studie unter der Leitung von Professor Jan Korbel, leitender Wissenschaftler und Leiter der Datenwissenschaften am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL), und Dr. Ashley Sanders, Gruppenleiterin am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB), haben Forschende herausgefunden, dass etwa eine von 40 menschlichen Knochenmarkszellen massive Chromosomenveränderungen – zum Beispiel bei Kopienzahlvariationen und chromosomalen Umlagerungen – aufweist, ohne dass eine offensichtliche Krankheit oder Anomalie vorliegt.

Darüber hinaus wiesen Zellproben von über 60-Jährigen tendenziell eine höhere Anzahl von Zellen mit solchen Genomveränderungen auf. Das weist auf einen bisher unbekannten Mechanismus hin, der zu altersbedingten Krankheiten beitragen kann. Die Studie wurde in der Zeitschrift „Nature Genetics" veröffentlicht. „Die Studie unterstreicht, dass wir alle Mosaike sind", sagt Korbel. „Selbst vermeintlich normale Zellen tragen alle möglichen Genmutationen in sich. Letztlich bedeutet das, dass es mehr genetische Unterschiede zwischen einzelnen Zellen in unserem Körper gibt als zwischen uns Menschen."

Nachweis von subtilen Genom-Details in Einzelzellen

Sowohl Korbel als auch Sanders untersuchen, wie genetische Strukturveränderungen – Deletionen, Duplikationen, Inversionen und Translokationen großer Abschnitte des menschlichen Genoms – zur Entstehung von Krankheiten beitragen. Im Hinblick auf Krebs ist bekannt, dass genetische Mutationen dazu führen können, dass Zellen unkontrolliert wachsen und sich ein Tumor bildet, erklärt Sanders. „Wir verwenden ähnliche Ansätze, um zu verstehen, wie sich nicht-krebsartige Krankheiten entwickeln", fügt sie hinzu.

Die Entdeckung wurde durch eine Einzelzell-Sequenzierungstechnologie, die sogenannte Strand-Seq, möglich. Dabei handelt es sich um eine spezielle DNA-Sequenzierungstechnik, mit der kleinste Details von Genomen in Einzelzellen aufgedeckt werden können, die mit anderen Methoden nur schwer zu erkennen sind. Sanders ist eine Wegbereiterin dieser Technologie. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit war sie an der Entwicklung des Strand-Seq-Verfahrens beteiligt, das sie später als Post-Doc in Korbels Labor mit Kolleg*innen weiter verfeinerte.

Mit Strand-Seq können Forschende strukturelle Veränderungen in einzelnen Zellen mit höherer Präzision und Auflösung nachweisen als mit jeder anderen Sequenzierungstechnologie, so Sanders. Die Technologie hat zu einem völlig neuen Verständnis von genetischen Mutationen geführt und wird heute häufig genutzt, um Genome zu beschreiben und Erkenntnisse in die klinische Forschung zu übertragen. „Wir begreifen hier gerade, dass nicht jede Zelle in unserem Körper die exakt gleiche DNA hat – im Gegensatz zu dem, was in den Lehrbüchern steht", sagt sie.

Genetischer Mosaizismus ist weit verbreitet

Mit dieser Studie wurde die Strand-Seq-Technologie zum ersten Mal eingesetzt, um Mutationen in der DNA gesunder Menschen zu untersuchen. Die Forschenden untersuchten biologische Proben verschiedener Altersgruppen – vom Neugeborenen bis zum 92-Jährigen – und fanden bei 84 Prozent der Studienteilnehmer*innen Mutationen in Blutstammzellen, die sich im Knochenmark befinden. Dies deutet darauf hin, dass starke genetische Mutationen sehr häufig sind.

„Es ist schlichtweg verblüffend, wie groß die bislang unentdeckte Heterogenität in unseren Genomen ist", sagt Ashley Sanders. „Was dies für die Definition eines 'normalen' menschlichen Alterns bedeutet und wie sich dies auf die Arten von Krankheiten auswirken kann, unter denen wir leiden, sind überaus wichtige Fragen für das Forschungsfeld."

Die Studie ergab auch, dass bei über 60-Jährigen, deren Knochenmarkzellen genetische Veränderungen tragen, diese tendenziell auch in höherer Zahl auftreten. Dabei kommen Bestände bestimmter genetischer Varianten, sogenannte Subklone, häufiger vor als andere. Das häufige Vorhandensein dieser Subklone deutet auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Altern hin.

Aber ob die Mechanismen, die die Vermehrung von Subklonen in Schach halten, mit zunehmendem Alter versagen, oder ob die Ausbreitung von Subklonen selbst zu Alterserkrankungen beiträgt, ist nicht bekannt, so Korbel. „Unsere künftigen Einzelzellstudien sollten uns klarere Erkenntnisse darüber liefern, wie diese Mutationen, die bisher unbemerkt blieben, unsere Gesundheit beeinflussen und möglicherweise dazu beitragen, wie wir altern."


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